Gisela Schmidt‑Reuther

Ihr Leben. Ihre Werke.

Was bedeutet dem Bildhauer – Plastiker die Zeichnung

 Was bedeutet dem Bildhauer – Plastiker die Zeichnung ?

Eine Gedächtnisstütze seiner an der Natur entwickelten Formfantasie. Denn Fantasie ist nichts anderes als erlebtes Leben, sei es ein Inneres, sei es ein Äußeres. Goethes Erkenntnisse konnte ich  immer wieder in meinem Künstlerleben bestätigt finden, wo es um die ANSCHAUUNG ging. Ich zitiere: „Was ist das Schwerste im Leben? Zu sehen,  was vor den Augen dir liegt.“  Versuchen Sie, diese Liniengefüge, nur zweier oder dreier Aufzeichnungen, sozusagen „par coeur“ auswendig zu lernen, indem Sie die Augen schließen und mit dem INNEREN Auge das Gesehene  nachvollziehen – dann haben Sie den ganzen Schlüssel zu der Fülle des hier Dargestellten.

Sie erkennen die Handschrift und erleben sich selbst in diesen Gestalten, Formen und Farben und fragen nicht mehr, wie kostbar ist das Papier oder das Material oder die Aufmachung. Die Kostbarkeit liegt nicht im Material, sondern in dem eingefangenen Augenblick, da der Geist wach war und die Hand nicht versagte. Fundgruben dieser Formen waren die Straßen, die Café- Restaurants und alle Knotenpunkte der Megapolen, aber auch das Abseitige und die stillere Natur. Überall findet ein Künstler seine Ausdruckswelt, die er mit SEINER Handschrift nur hereinzuholen braucht in seine Lebensräume. Ich habe mich stets GEGEN die Großformate entschieden. Ich halte es da mit Gottfried Benn, der sagte: „Ausdruckswelt hinein holen in die Intimräume, in Augenhöhe, neben das Liebeslager.“  Er gab mir Mut mit dem Gedanken: „Ist nicht alles Ton, in dem wir spielend nach Göttern suchen und wenn es sich bei dir auch nur um geringere ‚Stücke‘ handelt?“

Ich bewegte mich in den Straßenschluchten, im Mahlstrom der Megapoles, tagelang. Erlebte die Dichte der Massen und ihre Auflösung. Versuchte die Umrisse der Schemen und Schattenfernbilder in einem Atemzug rein linear zu bannen, dieses Sekundenphänomen, das unser aller Schicksal wurde: Nur noch Tangierungen, Vorbeigleiten, gesichtslose Zeitgenossen, nur Chiffren bleiben, unter Weglassung aller Details.

Choreographische Aufzeichnungen entstehen, Koordinatensystem, Punkte und Linien verbinden sich. Durch die Fußgängerzonen der Cityzentren, diesen Fangzonen der Massen, bewegen sich für mich die Menschen nur noch als Elemente. Engpässe verhelfen zu Dichtigkeiten und Dunkelheiten, die sich wieder zu Helligkeiten weiten beim Zerstreuungsprozess der Masse. Später bleiben nur Linien auf weißen Blättern, deren Chiffren ablesbar sind, und auf diesem Erlebnisgrund finden auch SIE dann Ihr Deja-Vue-Erlebnis. Dabei gerate ich stets in diese Auseinandersetzung mit dem Begriff „Schönheit“. Was ist Schönheit in einer zerklüfteten, unbewältigten Zeit, die eine einzige große, nie zu Ende gehende Baustelle ist?

Es geht mir darum, Leben durch Formfindungen leichter ertragen zu können. Bei manchen Formerinnerungen steht mein Gedächtnis in Flammen. Was braucht man von mir zu wissen, ich mache Plastiken und zeichne auf, wie ein Seismograph das Beben. Das Mysterium des Lebens ist immer am Ursprung anzusiedeln. Das ganze Drama sind die großen Traurigkeiten, die uns in dieser Welt überfallen. 

Wie also gehe ich gegen diese inneren Zerstörungen an?

Gisela Schmidt-Reuther 1995