Gisela Schmidt‑Reuther

Ihr Leben. Ihre Werke.

Lärmende Stummheit

Prof. Dr. Ulrich Gertz über Gisela Schmidt-Reuther

Die „Lautlosigkeit“ der Kunst ihres Lehrers Richard Scheibe ist auch ein sich verstärkender Gestaltwert der keramischen Plastiken von Gisela Schmidt-Reuther. Ohne die, die Formen und Zusammenhänge erforschenden, anatomischen Studien könnte sie die Körperlichkeit, das anatomisch gegliederte und begründete Körpervolumen nicht in die Fläche, nicht in die Silhouetten-Scheiben zwingen. Gerade durch die konturierenden Verzeichnungen, Streckungen und Raffungen des Volumens und der Gestalt ist sie gehalten, gliedernde Akzente des die äußere Erscheinung eines Menschen oder Tieres mitbestimmenden Skeletts in ihre Kompositionen aufzunehmen. Ihre auf die Silhouette reduzierten Figuren sind nicht in sich starr, sondern weisen behutsam gesetzte geringe Achsenbewegungen auf, geringe Verschiebungen. Die Verfremdung, die Längung der Körper steht den frühen Zeichnungen und Figurenbildern von Lyonel Feiniger näher als den Plastiken Wilhelm Lehmbrucks. Wie überhaupt die Entmaterialisierung und Verfremdung körperhafter Volumen in das künstlerische Gestalten von Gisela Schmidt- Reuther hineinwirkt.Sie kann sich nicht von der plastischen Materie und ihrem noch so geringen Volumen trennen, wie Feininger es durch die linear-malerische, kristalline Formentfaltung und den Gestaltwandel in ein atmosphärisches, unertastbares Schattendasein vermochte. 

Für Gisela Schmidt-Reuther ist die Welt der nur noch in ihrer Schattenexistenz sichtbaren und wahrnehmbaren Menschen zur künstlerischen Aufgabe geworden. Es ist nicht die Unterwelt der antiken Mythologie, es könnte eine Umdeutung, eine bildhafte Weiterführung des platonischen Schattenerlebnisses sein und seiner Deutung: Wichtiger als der Schatten und die Beschwörung des ihn werfenden Gegenstandes ist die Lichtquelle. Die Schattenfiguren werden in die Kostbarkeit der aus der Natur, aus den Mineralien und aus dem Verborgenen hervor gerufenen Glasuren gehüllt. Und sie leuchten. Dieses Leuchten ist Gegenwart und gibt den Schatten, den Schemen, dem entpersönlichten ihre neue Individualität. Der Farbenreichtum kann im Spektrum liegen, er kann sich uns in wenigen Kristallen offenbaren, die im mächtigen Dunkel, im milchigen Hell sichtbar sind. Die Schattenfiguren und Scheibengestalten sind von einer Wertlosigkeit, Schweigsamkeit, von einem Minimum reduzierter Bewegungen.

Hermann Broch spricht von der „lärmenden Stummheit“ in seinem Essay „Geist und Zeitgeist“. Sie weht uns aus den szenischen Kompositionen an. Wir erfüllen diese Gruppierungen, diese Vielzahl von Gestalten mit dem von uns erfahrenen Leben. Wie kommt es, dass die Häufung von agierenden Menschen zu einer Stille, zu einem Verlorensein an die Masse, zur Anonymität aller führt? „Lärmende Stummheit?“ Wie kommt es, dass die Mannigfaltigkeit der Glasurstrukturen und der Glasurfarben sich wie ein aus vielen Farben und Motiven geknüpfter Teppich zu einem Bild der Formerinnerung schließt? Liegt es daran, dass die Künstlerin alles bildnerisch Lernbare und die Summe des handwerklich technischen und chemischen Wissens als Klangfarbe und als kontrollierte, präzisierte Gestaltung den Lebenserkenntnissen nicht nur zu-, sondern vielmehr unterordnet? Die Idee, Körperhaftigkeit durch menschenähnlich konturierte Scheiben und die Körperlosigkeit durch Schemen zu ersetzen, lässt sie nicht los. Ihr genügen die Umrisse, die die Anonymität des Menschen wahren. „Das Fernbild oder Schattenbild erinnert mich an die Flüchtigkeit irdischen Daseins“, notiert sie. Die Isolierung des Einzelnen in der Vielzahl, aber auch in der kleinen Gruppe wird durch die Anordnung auf der Standfläche erreicht: das Nebeneinander und Hintereinander löst sich auf in Kettenbewegungen, deren einzelne Glieder in stets anderer Winkelung zum voraufgegangenen und zum nachfolgenden Kettenglied. 

So bekommt jede Figur ihren – sie isolierenden und sie doch mit anderen Figuren verbindenden – Platz innerhalb der Szenerie. Gelegentlich stehen die Figuren auf Standflächen, wie wir sie von Zinnfiguren kennen, und fordern den Betrachter geradezu auf, neue Kombinationen zu stellen, andere Spannungen und Trennungen zur Sprache zu bringen. Durch solches Umstellen lässt sich sogar das ursprünglich formulierte Thema wandeln.

„Raum bilde ich durch Koordination zwischen Einzelnen oder Gruppen, also das Leere zwischen den Objekten soll Spannung erzeugen, dem Beschauer die Füllung überlassen.“   

Wie still die keramischen Plastiken von Gisela Schmidt-Reuther sind, wie sehr bei aller Verdichtung und gegenseitigen Zuordnung sie es bleiben, das wird in den Wattreitem exemplarisch deutlich: 

Die Weite, die das Schweigen der endlosen Fläche dem Betrachtenden vermittelt. Man sollte sich immer wieder vergegenwärtigen, dass diese „maßstäblich zum Leben kleinen Objekte“ nicht mit den üblichen Kleinplastiken zu identifizieren sind. 

Gisela Schmidt-Reuther sagt zu den maßstäblich so kleinen Figuren, dass sie nicht die „Mindestform des Großen“ sind, sondern „das Große im Kommen; sie sind auf das Wachsenlassen gerichtet.“ Wege zu weisen, das war Zeit ihrer Lehrtätigkeit und weit darüber hinaus bis in jüngste Tage – ja man möchte fast sagen – eine „charakteristische Eigenschaft“ von Gisela Schmidt-Reuther. 

Ulrich Gertz 1995